Herzlich willkommen zum vierten und letzten Teil meiner Blogserie rund ums Thema „belastende Gefühle, Überzeugungen und Muster“ und warum es uns in der Regel nicht gelingt, sie einfach „wegzumachen“ oder zu „überschreiben“.
Im heutigen Blogartikel wollen wir uns diesbezüglich gemeinsam das Thema >> Hilfs- und Kompensationsstrategien << ansehen.
Wenn du jetzt erst über meine Blogserie „gestolpert“ bist, dann lade ich dich herzlich ein, zuerst die vorherigen Beiträge der Serie zu lesen. Einiges baut aufeinander auf und ich habe, besonders intensiv im ersten Artikel, geschrieben, warum es mir so am Herzen liegt, dass du beim Lesen dieser Serie gut auf dich achtest und achtsam abwägst, ob es für dich hilfreich ist, diese Themen allein anzusehen oder ob es ratsam ist, es gemeinsam mit einer Begleitung zu tun.
Wenn du die anderen Teile bereits gelesen hast, dann wünsche ich dir jetzt eine gute Zeit beim Lesen und viele hilfreiche (neue) Erkenntnisse. Achte gut auf dich!
Hilfs- und Kompensationsstrategien
Unser autonomes Nervensystem hält verschiedene Notfall- und Überlebensstrategien für uns parat. So, dass wir uns in Notfallsituationen, ohne zu überlegen, schnell in Sicherheit bringen können. Damit sind wir in der Lage reflexartig zu entscheiden, ob „Flucht“ oder „Kampf“ angesagt ist oder ob ein „Todstellreflex“ sinnvoller ist. Das Stresstoleranzfenster nach Daniel Siegel und Verena König bildet dies gut ab. Um das Bild noch einmal vor Augen zu haben, klicke gerne hier.
Auch die im Teil 2 dieser Artikelserie beschriebene Bindungssuche ist eine hochwichtige Überlebensstrategie. Die Bindungssuche ist die Strategie nach der wir, ganz ohne darüber nachzudenken, als allererstes greifen (es sei denn unser Bindungssystem ist deaktiviert, z.B. durch frühkindliches Trauma), wenn wir in Not sind.
Im heutigen Beitrag möchte ich jedoch auf solche Strategien schauen, die wir uns dann aneignen (unbewusst!), wenn eine Stresssituation (kann zur Prägung führen) oder auch Hochstresssituation (kann zu Trauma/Traumafolgestörungen führen) lange andauert und die oben genannte Strategien nicht „die richtige“ ist oder nicht zur Verfügung steht.
Angeeignete/Erlernte (Überlebens)strategien
Je nachdem aus welchem Grund und zu welcher Zeit unsere Psyche diese Strategie entwickelt hat, wird sie für uns regelrecht zu einem Lebensstil. Die Strategie gehört dann irgendwann so sehr zu uns, dass wir davon ausgehen, dass wir „eben so sind“.
Es ist keine Strategie die wir „einfach nur anwenden“, sie ist ein Teil von uns. Darum bemerken wir sie häufig auch erstmal nicht.
Wir bemerken sie oft erst dann, wenn sie uns überlastet, ihr Vorhandensein immer wieder zu Konflikten führt oder uns andere Menschen darauf aufmerksam machen.
Manchmal wird sie uns auch bewusst, weil wir uns aus irgendeinem anderen Grund mit uns selbst beschäftigen und uns dadurch mehr reflektieren.
Nachfolgend zähle ich dir mögliche Hilfsstrategien auf. Selbstverständlich gibt es noch viiiiiieleeeeee weitere Arten von Strategien, die Menschen sich unbewusst zulegen, um besser (über)leben zu können.
- Perfektionismus
- Funktionsstreben
- Süchte
- Abwertung
- Rationalisieren
- Anpassung
Ihre Entstehungsgeschichte – der gute Grund
Wie bereits geschrieben, haben auch unsere Strategien eine sinnhafte Entstehungsgeschichte und möchten deshalb anerkannt werden.
Wenn wir z.B. alles immer perfekt machen oder machen wollen, dann wird es vielleicht einmal sehr sinnvoll gewesen sein, die Dinge außerordentlich gut oder sogar perfekt zu erledigen. Vielleicht gab es in der Vergangenheit einen sehr hohen Leistungsdruck oder aber es hat sich das generelle Gefühl von „ich bin nicht gut genug“ entwickelt, das nun durch den Perfektionismus kompensiert wird.
Hier kann eine wohlwollende, erforschende Hinwendung ein hilfreicher erster Schritt sein. Da unsere Kompensationsstrategien häufig auch Überlebensstrategien sind, ist eine sehr vorsichtige Herangehensweise ausgesprochen wichtig.
Vielleicht hilft dir hier eine Verbildlichung: Wenn wir einen Menschen, der an Gehhilfen läuft, diese wegnehmen würden, ohne dass er das Laufen wieder gelernt hat, würde er der Situation hilflos ausgeliefert sein und hinfallen oder nach einer anderen Gehhilfe greifen.
Für unsere Kompensationsstrategie bedeutet das, dass ein „Wegmachen“ der Strategie, ohne vorher eine innere Stabilität aufgebaut und bereits neue Wege erbaut zu haben, zu anderweitigen Kompensationsstrategien, Retraumatisierungen oder sehr unangenehmen Gefühlszuständen führen kann.
Das kann dann ein Erleben sein, dass sehr Gegenteilig zu dem ist, was wir uns eigentlich erwünscht haben. Denn wir möchten uns ja sicher, bewusst und wohl in unserem Tun fühlen.
Frust durchs „wegmachen wollen“
In den sozialen Medien und auch in anderen Bereichen ist häufig davon zu lesen, dass „alles möglich ist, wenn du nur genügend willst“ oder „wo ein Wille ist, auch ein Weg ist“ oder anderes mehr. Es suggeriert uns, dass wir uns (uns damit auch unsere Muster und Strategien) verändern können, wenn wir nur genügend wollen.
Mit dem Wissen aus den vorherigen Absätzen, ist uns jetzt jedoch bewusst, dass es einen guten Grund für unsere Strategie(n) gibt und dass sie häufig tief verankert sind. Das einfache „wegmachen wollen“ durch Affirmationen, Überschreibungen, Mantras oder Ähnliches mehr, führt in unserem Inneren daher schnell zu einem Unsicherheitsgefühl. Denn ohne diese Strategie wären wir früher verloren gewesen. Es ist daher ratsam, die Hintergründe zu erforschen und für neue Stabilität zu sorgen, anstatt sie „einfach löschen“ zu wollen.
Durch das Anpreisen, dass es „ganz einfach geht“, entsteht bei vielen Menschen ein Gefühl von „alle können das, nur ich nicht“, „ich arbeite wohl einfach nicht hart genug an mir“, „ich bin einfach zu weich“ und anderes mehr. Auf ein sowieso schon schweres Thema treffen Frust und Versagensgefühle. Ein trauriges und schwer auszuhaltendes Ergebnis.
Aus meiner Sicht sind die „Anleitungen zum Loswerden“ viel zu undifferenziert.
Wenn wir uns im Laufe des Lebens etwas Ungünstiges angewöhnt haben, ohne dass eine Not dahinter steckte, dann können wir dies häufig mit etwas Disziplin wieder ablegen. Haben wir Strategien jedoch sehr früh im Leben und unter Stress oder Hochstress angelegt, sieht es ganz anders aus! Dann braucht es Zeit, wohlwollende Zuwendung (Bindung/Beziehung), Sicherheit und Verständnis, um diese Strategien zu flexibilisieren oder zu verändern.
Erforschung und wohlwollende Zuwendung
Daher gilt für mich, wie in den vorherigen Artikel mit den unterschiedlichen Schwerpunkten beschrieben, auch für unsere Kompensationsstrategien – eine wohlwollende Zuwendung ist ein sehr hilfreicher erster Schritt zum Kennenlernen und Erforschen unserer einstigen Helfer, die uns zum jetzigen Lebenszeitpunkt häufig nicht mehr wie solche vorkommen und in ihrem Auftreten auch häufig „ruppig“ und starr sind.
Auch hier geht es mir wieder um die Einladung, dass wir unsere Strategien bewertungsfrei „ansehen“ und beginnen sie anzuerkennen. Was war ihr guter Grund für die Entstehung? Wobei haben sie unterstützt und geschützt?
Diese Art der Zuwendung und des Betrachtens öffnet Türen für die Veränderung. Wie immer (und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass diese Aussage sooo frustrierend sein kann!) brauchen diese Prozesse Zeit und auch diese Türen brauchen sie, um sich so weit zu öffnen, dass wir hindurchschauen und später -gehen können. Aber vielleicht geht sie schon mal einen Spalt oder ein Spältchen auf. Vielleicht kann schonmal etwas Licht hindurch scheinen….
Wenn die Tür dann irgendwann weiter aufgeht und wir uns unserer Strategien immer bewusster werden und beginnen können sie zu flexibilisieren, dürfen wir uns immer wieder bewusst machen, dass die neuen Verschaltungen zwischen unseren Nervenzellen noch ganz frisch sind. Sie sind noch im Wachstum und fragil. Es sind noch Trampelpfade.
Daher dürfen wir damit rechnen, dass wir auch noch wieder auf alte Muster zurückgreifen werden. Besonders in für uns stressigen Situationen. Das muss nichts mit Zeitstress zu tun haben, sondern hat häufig viel mehr mit Situationen zu tun, in denen wir uns sehr gefordert oder sogar überfordert fühlen. Dann greift unser System häufig auf die „Autobahn“ unsere alte Kompensationsstrategie zurück und wir reagieren/verhalten uns wieder nach unseren alten Mustern.
Wenn wir das im Nachhinein merken, sind wir häufig frustriert oder traurig, dass uns das passiert. Ich finden das auch mehr als verständlich und doch möchte ich uns alle einladen, versuchen milde mit uns zu sein. Veränderungen brauchen Zeit, Neuverknüpfungen im Hirn brauchen Zeit und ein reflexartiges Wiederanwenden alter Helfer ist ein absolut erklärbares, normales Geschehen.
Nachdem wir uns jetzt die Hintergründe unserer (Überlebens)strategien angesehen haben, habe ich jetzt wieder ein paar Reflexionsfragen für dich vorbereitet, wenn du magst.
Auch für diese gilt das Gleiche, wie für die Fragen in den vorherigen Artikeln: Spüre gut in dich hinein, ob du über ausreichend innere Stabilität und Sicherheit verfügst, um dich diesen Fragen zu widmen. Solltest du wissen oder ahnen, dass du sehr belastende Prägungen oder sogar Trauma in deinem Lebensgepäck hast, prüfe sorgfältig, ob es eventuell hilfreich für dich ist, dich diesen Fragestellungen gemeinsam mit einem traumasensiblen Coach oder Therapeut zuzuwenden.
Wenn du nach einem Reinspüren für dich zu dem Ergebnis kommst, dass es für dich passt, wünsche ich dir auch an dieser Stelle wieder viele hilfreiche Erkenntnisse und eine gute Zeit mit dir selbst.
Reflexionsfragen:
- Welche Strategie(n) kennst du von dir?
- In welcher Situation nutzt du sie?
- Wie kommst du wieder heraus?
- Wann nutzt du diese Strategie?
- Wie fühlst du dich in dem Moment?
- Wo kannst du es im Körper fühlen?
- Welche Gedanken hast du?
- Welche inneren Bilder hast du, wenn du dich deiner Strategie zuwendest?
Ich lade dich ein, dir Zeit für diese Forschungsfragen zu nehmen und sie mit einem Entdeckergeist zu bewegen. Spüre diesen Fragen und deinen Antworten nach. Versuche dabei auf Bewertungen zu verzichten und ganz wohlwollend mit dir und deinen Strategien zu sein.
Vielleicht magst du dir auch zu diesen Reflexionsfragen wieder Notizen machen. Es ist oft sehr hilfreich die Dinge „zu Ende zu schreiben“. Wenn wir Gedanken „zu Ende schreiben“, werden sie verbindlicher und führen häufig zu viel Klarheit.
Wie geht es dir jetzt?
Wie geht es dir jetzt mit den Erkenntnissen aus dem Beitrag und deinen Antworten auf meine Fragen? Sind sie eher entlastend oder ernüchternd für dich? Was verändern sie in dir?
Ich lade dich ein, dir Zeit zum Nachspüren zu nehmen. Auch wenn du dir die Reflexionsfragen nicht näher angeschaut hast. Themen rund um dich und deine Entwicklung haben schnell einen gewissen Anspruch und aktivieren auch schnell mal etwas in deinem (Nerven)system. Daher nimm dir gerne Zeit, bis du wieder in deinen Alltag übergehst.
Seele braucht Zeit.
Ich wünsche dir alles, alles Liebe und freue mich, wenn du demnächst mal wieder in meinem Blog vorbeischaust!
Solltest du beim Lesen bemerkt haben, dass diese Themen etwas in dir anrühren und dass du dich mit dem Anschauen und Nachspüren dieser Fragen allein unwohl oder unsicher fühlst, stehe ich dir gerne als Begleiterin und Unterstützerin zur Verfügung.
Schau gerne mal auf mein Angebot oder buche dir ein unverbindliches und kostenfreies Kennlerngespräch.
Alles Liebe für Dich!
Deine Claudia 💜
Autorin: Claudia Süsens
https://coachingpraxis-
Hallo, ich bin Claudia, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Ganzheitlicher Coach und Karriere-Navigator-Coach.
Ich begleite dich während persönlicher und beruflicher Krisen. Achtsam, absichtsfrei und zugewandt.
Vielen Dank für Dein Interesse, ich freue mich, dass Du hier bist!